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Mammut-Prozess Wirecard: Was bislang bekannt ist

Mammut-Prozess Wirecard: Was bislang bekannt ist

FINEXITY
4 Minuten 
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January 19, 2023

Im Sommer 2020 ging ein Ruck durch die deutsche Börsen- und Wirtschaftswelt: Der Dax-Konzern Wirecard meldete Insolvenz an, nachdem bekannt geworden war, dass 1,9 Milliarden Euro “fehlten“. Mehr als 20 Milliarden Euro an Vermögenswerten wurden vernichtet. Es folgten buchstäblich filmreife Szenen. Der frühere COO Jan Marsalek verlor seine Stellung, tauchte ab und wird von der deutschen Polizei mit einem internationalen Haftbefehl wegen Betrugs gesucht. Ende 2022 begann schließlich der Mammut-Prozess rund um Wirecard, der die Schuldigen zur Verantwortung ziehen und neue Erkenntnissen für eine bessere Bekämpfung von Bilanzbetrug und zur Stärkung der Kontrolle über Kapital- und Finanzmärkte bringen soll.

Warum musste Wirecard Insolvenz anmelden?

In der Öffentlichkeit wurde Wirecard jahrelang als überaus erfolgreiches Fintech-Unternehmen dargestellt, das an der Börse einen kometenhaften Aufstieg hingelegt hatte und seit 2018 sogar im Dax gelistet war.

Das Geschäft mit E-Commerce-, Payment- und Fintech-Dienstleistungen blühte offenbar - allerdings mitunter dank Drittpartnern wie Payeasy (Manila) und Al Alam (Dubai), die für Wirecard angeblich Kreditkartenzahlungen abgewickelt haben. Um diese Zahlungen finanziell abzusichern, sollten Treuhänder, darunter ein philippinischer Anwalt, Geld für Wirecard auf Konten verwahren. Dieses Geld habe es allerdings nie gegeben, weil das Drittpartnergeschäft nie existiert habe, betont die Staatsanwaltschaft München I.

Stärker noch: Man geht momentan davon aus, dass die Wirecard AG seit 2015 falsche Bilanzen vorgelegt hat. Denn ohne die Berücksichtigung des Drittpartnergeschäfts hätte Wirecard Verluste ausweisen müssen und damit Banken sowie (Privat-)Anleger verprellt. Wegen der “Bilanzlücke” von knapp zwei Milliarden Euro musste Wirecard am 25. Juni 2020 einen Insolvenzantrag stellen, doch Anzeichen für Unregelmäßigkeiten gab es schon Jahre vorher.


  • Unter dem Titel "House of Wirecard" veröffentlichte die Financial Times 2015 erste kritische Artikel rund um Wirecard.




  • Im Februar 2019 fiel der Wirecard-Aktienkurs von gut 167 Euro auf bis unter 86 Euro aufgrund dreier Berichte der Financial Times: Mitarbeiter in Singapur hätten Kunden und Umsätze erfunden, um eine Geschäftslizenz in Hongkong zu erhalten und die Ertragsziele von Wirecard zu erreichen. Am 8. Februar 2019 durchsuchten Polizeibeamte die Filiale in Singapur. Wirecard bestritt die Vorwürfe und reichte eine Klage gegen die Financial Times und wegen Kursmanipulation ein.


Nachdem die FT ihre Berichterstattung über manipulierte Geschäftszahlen fortsetzte, beauftragte der Wirecard-Aufsichtsrat im Oktober 2019 die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG mit einer Sonderuntersuchung der Vorwürfe. Die Unternehmensberatung stieß dabei tatsächlich auf Unregelmäßigkeiten und berichtete: Man könne zur Höhe und zur Existenz wesentlicher Umsätze im Geschäft des Zahlungsdienstleistern in den untersuchten Jahren 2016 bis 2018 kaum Aussagen machen. Es sei unklar, ob die Umsätze überhaupt existieren und falls ja, ob sie korrekt seien. Daraufhin musste Wirecard die Bilanzvorlage für das abgelaufene Geschäftsjahr mehrmals verschieben, weil die Prüfer von EY, die die Wirecard-Bilanzen über Jahre bestätigt hatten, das Testat für die Bilanz 2019 verweigerten.

Ein Jahrhundertprozess beginnt

Nach dem Kollaps des Wirecard-Konzerns begann am 8. Dezember 2022 schließlich eines der spektakulärsten Wirtschafts-Gerichtsverfahren der Nachkriegsgeschichte. Zunächst hat die 4. Strafkammer des Landgerichts München I bis Ende 2023 rund 100 Verhandlungstermine im Gerichtsaal im Süden Münchens angesetzt. In dem Terminplan, den das Oberlandesgericht München veröffentlicht hat, ist jedoch vermerkt, dass auch schon organisatorische Vorbereitungen für das Jahr 2024 getroffen wurden. Noch ist offen, wann es zu einer Entscheidung kommen wird. Die Frage nach möglichen Entschädigungen für geprellte Anleger und Gläubiger wird in anderen Verfahren geklärt.

Drei Angeklagte, ein Flüchtiger und Aktenberge

Auf der Anklagebank sitzen der frühere Vorstandschef Markus Braun, der ehemalige Geschäftsführer einer Wirecard-Tochterfirma in Dubai, Oliver Bellenhau, sowie der Ex-Chefbuchhalter Stephan von Erffa. Ex-Vorstand Jan Marsalek ist flüchtig und wird mit internationalem Haftbefehl gesucht. Es wird vermutet, dass er sich in Russland aufhält. Als Vorstand unterstand Marsalek das Drittpartnergeschäft. Zudem war er für die Region Asien zuständig und spielt deshalb wahrscheinlich eine zentrale Rolle im Prozess, der ohne den Flüchtigen vielleicht nie ganz aufgeklärt werden wird.

Ex-Wirecard-Chef Markus Braun sitzt dagegen seit rund zweieinhalb Jahren in Untersuchungshaft und wird in den kommenden Monaten und Jahren zur Klärung brennender Fragen verhört werden. Denn die Staatsanwaltschaft wirft den drei Angeklagten Marktmanipulation, Untreue, falsche Darstellung und gewerbsmäßigen Bandenbetrug vor. In seinem "Opening Statement" wies Braun-Anwalt Dierlamm die Anschuldigungen nicht nur zurück, sondern machte der Staatsanwaltschaft schwere Vorwürfe.

So leide das gesamte Verfahren an einem "Geburtsfehler", weil sich die Ermittler auf die Aussagen eines unglaubwürdigen Zeugen verlassen hätten - auf den Kronzeugen Bellenhaus. Markus Braun sieht sich nach Angaben seines Verteidigers als Opfer einer Bande rund um Marsalek und Oliver Bellenhaus. Ihnen wirft er vor, über Briefkastenfirmen im Ausland große Geldsummen aus dem Wirecard-Konzern herausgeleitet zu haben.

Auch hat Anwalt Dierlamm bereits kurz nach Prozessbeginn im Dezember beantragt, das Gerichtsverfahren auszusetzen. Als Begründung gab er an, dass die Staatsanwaltschaft den Prozessbeteiligten fortwährend umfangreiche neue Akten übermittelt. Der Aktenbestand für dieses Verfahren sei inzwischen auf 870 Ordner angewachsen. Ein Gerichtssprecher sagte am 18. Januar, die Strafkammer wolle "zeitnah" über Dierlamms Antrag entscheiden.

Die kommenden Wochen und Monate dürften also einem Wirecard-Wirtschaftskrimi gleichen, der auch weitreichende Konsequenzen für Aufsichtsbehörden wie die BaFin haben sollte. Denn das unvorsichtige Verhalten von EY und der BaFin hat den Wirecard-Skandal zumindest begünstigt und zeigt, dass das bisherige Kontrollsystem bei der Aufdeckung von Bilanzmanipulationen an seine Grenzen stößt.

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